Gerhard Roth: 15. August 1942; † 25. April 2023

Gerhard Roth war Philosoph, Biologe und Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er war langjähriger Direktor dieses Instituts, welches er 1989 mitbegründet hatte. Gerhard Roth ist im April dieses Jahres überraschend gestorben. Sein Tod ist mir Anlass, hier einige seiner zentralen Gedanken und Konzepte vorzustellen, die mich in meiner Arbeit als Coach inspiriert und nachhaltig beeinflusst haben.

Was wirkt wirklich in Coaching und Therapie?

Roth’s Kritik an der „Methodengläubigkeit“

Gerhard Roth erläutert in Bezug auf Coaching- und Therapie-Methoden sehr pointiert und doch durch zahlreiche Forschungsstudien belegt, dass bezüglich Wirksamkeit in Coaching und Therapie und jenseits aller «Methodengläubigkeit» ein Drittelgesetz gelte: «Die unterschiedlichen Richtlinienverfahren weisen im Gesamtvergleich die gleiche Wirksamkeit auf, die zudem viel geringer ist, als offiziell behauptet wird und ungefähr dem ‘Drittelgesetz’ folgt, d.h. bei einem Drittel der Patienten zeigt sich eine deutliche längerfristige Wirkung, bei einem weiteren Drittel ist die Wirkung nur mässig oder nicht dauerhaft und beim restlichen Drittel ist keine Wirkung feststellbar.» (Ryba, Roth 2019, 20)

Er spart denn auch nicht mit Kritik an «althergebrachten» Ansätzen in Coaching und Therapie, wie klassische Psychoanalyse, rein kognitive Gesprächs- oder klassische Verhaltenstherapie, die nicht mehr zeitgemäss und den Nachweis ihrer Wirksamkeit schuldig geblieben seien (Roth, Ryba 2016, 307 ff).

Demgegenüber erhärtet Roth die Ergebnisse der Wirkfaktorenforschung von Grawe (2004), wonach 30% bis 70%, sogar bis zu 100% des Erfolges von Interventionen auf die sogenannte «therapeutische Allianz» zurückzuführen seien, also die Beziehungsqualität zwischen Begleitungsperson und Klient, was eben auch auf den Coaching-Rahmen übertragen werden kann, nämlich:

  • «Vertrauen des Behandelten in den Behandelnden;
  • Überzeugung des Behandelnden, dass er dem Behandelten helfen kann;
  • Vertrauen beider in die Methode.» (Ryba, Roth 2019, 21)

Im Übrigen wirken nach Darlegung von Ryba und Roth neben der «therapeutischen Allianz» als sogenannter unspezifischer Wirkfaktor die ebenfalls methodenunabhängigen Faktoren «Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Problembewältigung». (aaO)

Gedanken oder Gefühle coachen?

Roth’s Forschungen zum limbischen System

Seiner Tätigkeit als Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen verdanken wir eine Vielzahl spannender Forschungsergebnisse aus der Welt der Neurobiologie, die er auf Beratung, Coaching und Therapie anwendet. In seinem Buch «Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten» (Roth 2015) entwirft er sein Grundmodell von Persönlichkeit und deren konstituierenden Grössen.

Auf die Frage «Was sind Gefühle und wo im Gehirn sitzen sie?» (aaO, 182ff) führt er aus, dass körperliche Bedürfnisse wie Müdigkeit, Durst oder Hunger und auch Affekte wie Wut, Zorn, Hass, Angst, Panik und Aggressivität ihren Entstehungsort im limbischen System haben. Dort werden Emotionen in Verbindung mit Handlungen und Ereignissen wahrgenommen und im Erfahrungsgedächtnis abgespeichert. Es findet also ein emotionales Lernen, eine Konditionierung statt.

Gerhard Roth nennt nun vier neurobiologische Ebenen, die die Persönlichkeit prägen, die im Laufe der menschlichen Entwicklung gebildet werden und die auch in verschiedenen Hirnregionen repräsentiert sind:

  • Die untere limbische Ebene, wo weitestgehend die Grundzüge der Persönlichkeit und das Temperament bestimmt werden.
  • Die mittlere limbische, immer noch unbewusste Ebene der emotionalen Konditionierung in den ersten, frühkindlichen Lebensjahren.
  • Eine dritte Ebene der weiteren Prägung, Erziehung und Sozialisation (obere limbische Ebene mit Verbindung und Schnittstellen zum Cortex).
  • «Diesen drei limbischen Ebenen steht als vierte Ebene die kognitiv-kommunikative Ebene der assoziativen Areale des Neocortex gegenüber, insbesondere die der linken Hemisphäre» (Roth 2015, 120).

Als Folgerung aus diesem Modell formuliert Roth: «Der (…) Cortex hat bemerkenswerterweise keinen wesentlichen Einfluss auf die handlungsleitenden limbisch-cortikalen und subcortikalen Zentren (…). Er spielt entsprechend die Rolle eines ‘vernünftigen Beraters’ ohne eigene Entscheidungsbefugnisse. Diese Tatsache wird bei der Diskussion der Wirksamkeit von Psychotherapien eine wichtige Rolle spielen.» (Roth, Strüber 2018, 111)

Und noch pointierter schreiben Roth und Ryba in Ihrem Buch «Coaching, Beratung und Gehirn»: «Das limbische System hat in der Verhaltensplanung das erste und letzte Wort.“ (Roth, Ryba 2016, 222ff). «Das erste Wort beim Entstehen der Wünsche und Pläne, und das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was als Handlungsabsichten gereift ist, tatsächlich jetzt und so und nicht anders getan werden soll.» (aaO, 222)

Fazit an dieser Stelle: «Die wichtigste Botschaft lautet, dass es entgegen der traditionellen Sicht nicht wesentlich Rationalität und Verstand sind, die letztendlich unser Verhalten bestimmen, sondern dass dies das limbische System als umfassendes Erfahrungsgedächtnis macht, das sich in der ständigen unbewussten bzw. bewussten Bewertung dessen, was wir erleben und was wir tun, ein Leben lang anreichert.» (aaO, 224)

Wenn also Verhaltenssteuerung überwiegend nicht auf kognitiv-sprachlicher Ebene, sondern auf den verschiedenen limbischen Ebenen stattfindet, so kann die Schlussfolgerung nur sein, dass Coaching und Begleitung auch auf diesen Ebenen ansetzen muss, um veränderungswirksam zu sein.

Was nun?

Roth’s Ansatz eines „Integrativen neurobiologisch fundierten Coachings“

Interventionen und Methoden, die in Coaching und Beratung nachhaltige Wirkung erzielen möchten, müssen in geeigneter Weise Emotionen im Veränderungsprozess berücksichtigen und explizit einbeziehen. Aus der Formel «Emotion schlägt Kognition» ergibt sich als Konsequenz, dass emotionsbasierte Interventionen tiefer greifen und bessere Ergebnisse versprechen. Für meine Coachings orientiere ich mich an dem von Ryba und Roth entwickelten Modell der vier neurobiologischen Ebenen der Persönlichkeit und ihrer Veränderbarkeit durch Coaching oder Beratung. Bei Roth und Ryba (2016, 353f.) findet sich hierzu eine sehr wertvolle Zusammenstellung: in Form einer ausführlichen Tabelle wird aufgezeigt, welche Massnahmen und Ansatzpunkte für Veränderung oder Problemlösung im Coaching gewählt werden können, und welche kognitive oder limbische Ebene dabei jeweils angesprochen wird. Eine wichtige Anregung für den Betrieblichen Mentor und seinen «Methodenkoffer»!

Dieser Ansatz bildet dann einen zentralen Bestandteil der «Grundlagen des integrativen, neurobiologisch fundierten Coaching», wie Alica Ryba und Gerhard Roth in «Coaching und Beratung in der Praxis» (Ryba, Roth 2019, 485ff) ausführen. Sie skizzieren ein «neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell», mit dem sich jede Begleitungsperson intensiv befassen sollte.

Quellenangaben:
– Grawe, Klaus: Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen (2004)
– Roth, Gerhard: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, Stuttgart (2015); Neuauflage: Roth, Gerhard: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta, Stuttgart (2019)
– Roth, Gerhard; Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart (2018)
– Roth, Gerhard; Ryba, Alica: Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Klett-Cotta, Stuttgart (2016)
– Ryba, Alica; Roth, Gerhard: Coaching und Beratung in der Praxis. Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell. Klett-Cotta, Stuttgart (2019)

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Der Autor

Roger Marquardt

Name: Roger Marquardt

Beruf: Coach, Begleitperson, Lehrtrainer, Therapeut

Website: roger-marquardt.com

Motto: «Erkenne Dich selbst. Werde der Du bist»

Ausbildner: Zertifikat CoachDiplom Mental CoachBegleitung zur FachprüfungemTrace®

Seit 2005 ist Roger mit Leidenschaft und Begeisterung Emotions-Coach und hat sich auf die Anwendung moderner, integrativer und effektiver Kurzzeit-Methoden im Coaching spezialisiert. Vor seiner Karriere als selbständiger Coach, Berater und Trainer hat er erfolgreich ein Studium der Sozialpädagogik absolviert. Es folgten verschiedene Fortbildungen in Methoden der Persönlichkeitsentwicklung. Roger ist mehrfach zertifizierter Ausbildner, Coach und Lehrtrainer.