Leben ist Geschichte. Geschichte ist Veränderung.

Als Coaches und Begleitungspersonen unterstützen wir unsere Klient/innen in deren Lern-, Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. Manche Veränderungen in unserer Lebensgeschichte sind nur situativ bezogen und relativ einfach zu bewältigen. Andere hingegen beinhalten eine tiefgreifende Veränderung der Lebensumstände sowie der eigenen Identität, unseres zentralen Ich-Gefühls, unserer bisher gelebten Rolle, über die Zeit hinweg.

Beispiele gefällig? Der Wechsel vom Single zum Beziehungsmensch, vom Liebespaar zum Ehepaar zum Elternpaar, vom Mitarbeiter zur Führungskraft, vom Angestellten zum Selbständigen, vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeber, vom Erwerbstätigen zum Arbeitslosen und/oder Pensionär … die Liste der Wandlungen unserer Identität im Laufe unseres Lebens liesse sich beliebig fortsetzen.

Bedeutsam ist hier, dass es zwar äussere Zeichen der Veränderung gibt (Heiratsurkunde, neuer Arbeitsvertrag, neue Position im Organigramm, eigenes Firmenlogo o.ä.). Die inneren Prozesse werden aber oft unterschätzt oder machen Mühe, weil eine derartige Transformation viel Aufmerksamkeit, Zeit, Energie und Durchsetzungskraft erfordert. Denn Führungskraft werde ich nicht mit einem neuen Arbeitsvertrag, sondern es braucht auch neue und andere innere Ressourcen, Kompetenzen, Einstellungen, Charakterstärken etc., um die neue Rolle auszufüllen, um einen neuen Teil seines Selbst zu erschaffen und in sich zu integrieren.

Interessant ist nun, dass Geschichten und insbesondere anspruchsvolle «Veränderungsgeschichten» meist einer bestimmten inneren Struktur folgen.

Warum wir Menschen Geschichten lieben

Warum lieben wir Menschen eigentlich Geschichten, Märchen, Stories, Dramen, Krimis, Tragödien? Dafür gibt es mehrere Gründe (Eilert 2021b):

  • Wir Menschen (nicht nur Kinder) hören gerne zu, wenn uns jemand eine packende Geschichte erzählt oder vorliest. Studien zeigen, dass sich unsere Gehirnaktivität mit derjenigen des Erzählenden synchronisiert und dadurch die Ausschüttung von Oxytocin (unser «Bindungs- und Kuschelhormon») angeregt wird. Das fördert wiederum prosoziales Handeln und stärkt unsere Fähigkeit zur Empathie.
  • Indem wir uns mit dem Helden oder Protagonisten einer Geschichte identifizieren, wird unsere Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und zur Einfühlung verstärkt. Durch die Identifikation leiden und feiern wir mit dem Helden mit, wir wünschen uns das Happy End, dass am Ende «das Gute» oder «der Gute» siegt. So nimmt uns der Held mit, auf eine innere Entwicklungsreise, zu mehr Ganzheit und zu einem neuen «Selbst». Wir erleben unsere persönliche «Katharsis» stellvertretend im Helden und sind am Ende geläutert und gestärkt.
  • Schliesslich sind Geschichten Teil der «kollektiven Geschichte der Menschheit». Gute, spannende, mitreissende Geschichten können an archetypische Muster andocken, an Mythen, Märchen und Bilder, die Teil unserer DNA sind und die das Potential haben, uns auf tiefen neurologischen Ebenen zu berühren und zu inspirieren.

Die «Heldenreise» als Mythos und Metapher für Veränderungen auf Identitätsebene

Es gibt nun so etwas wie eine «verborgene universale Struktur», die berühmte und berührende Geschichten gemeinsam haben, und nach der auch heute noch viele erfolgreiche (Hollywood-)Filme und Bücher aufgebaut sind. Joseph Campbell (1999) hat diese Struktur erforscht, indem er die grossen Mythologien dieser Welt analysierte und nach dem gemeinsamen Nenner suchte.

Er nannte die gefundene Struktur „Heldenreise“ und zeigte auf, dass diese Struktur sich nicht nur in den grossen Erzählungen der Weltgeschichte, sondern auch in unserem Lebensverlauf und im Leben unserer Vorfahren widerspiegelt. Ein archetypisches Grundmuster von Leben, Entwicklung und persönlichem Wachstum, welches in einer Trilogie eine natürliche Eigendynamik entfaltet, nämlich zwischen Geburt, Leben und Tod resp. Aufbruch, Reise und Rückweg.

Campbell beschreibt 3 Akte mit 12 Stationen einer Heldenreise (vgl. Eilert 2021b, 23; Vogler 2018,47):

Aufbruch

  • Der Held lebt in seiner gewohnten Welt.
  • Er erhält den Ruf des Abenteuers.
  • Er zögert oder verweigert den Ruf.
  • Er überschreitet die erste Schwelle und begibt sich in die Welt des Abenteuers.

Reise

  • Der Held trifft einen Mentor, der ihn ermutigt.
  • Es warten Bewährungsproben, Verbündete und Feinde auf den Helden.
  • Er überschreitet die zweite Schwelle und dringt zur tiefsten Hölle vor.
  • Der Held stellt sich der entscheidenden Prüfung.
  • Nach seinem Sieg nimmt er die Belohnung an sich.

Rückweg

  • Er überschreitet die dritte Schwelle, tritt den Rückweg an, wo er weitere Herausforderungen meistern muss.
  • Der Held erlebt seine Auferstehung und wird von dieser Erfahrung grundlegend verändert.
  • Die Rückkehr mit der Belohnung in die gewohnte Welt beendet diese Reise – bis der nächste Ruf des Abenteuers folgt.

An dieser Stelle mag der Leser / die Leserin kurz innehalten und über die eigenen Heldenreisen nachdenken und nachspüren.

Und was hat das jetzt mit Coaching zu tun?

Die Heldenreise kann als archetypische Struktur verstanden werden, der persönliches Wachstum und Veränderungen ganz allgemein unterliegen, aber insbesondere grosse, tiefgreifende und über lange Zeit erfolgende Veränderungen auf der Identitätsebene oder in einer jeweils zentralen Rolle im Arbeits- oder Privatleben. Diese Struktur zu kennen hilft uns als Coach, Veränderung und Wachstum hier besser verstehen und begleiten zu können.

So können wir das Bild und die Phasen der Heldenreise im Coaching als Rahmenmetapher verwenden und unseren Klient/innen als Struktur und Orientierung anbieten. Wir können das Coaching und die Interventionen auf die jeweilige Phase der Reise abstimmen. Wir können gemeinsam schauen und definieren, an welcher Station der Reise er/sie sich befindet, wo welche Herausforderungen, Probleme oder Lösungen liegen.

Dieses Wissen erlaubt es uns, die jeweiligen Schritte, Ziele und Methoden sowie den Ressourcen- resp. Interventionsbedarf differenzierter zu erkennen und das Vorgehen gemeinsam mit den Klient/innen zu bestimmen und zu reflektieren. Die Erfahrung zeigt, dass die Nachhaltigkeit der Zielerreichung und die Ausgestaltung und Integration der neuen Rolle viel besser gelingt, wenn die Heldenreise in all ihren Stationen erfolgreich durchlaufen und gemeistert werden konnte. Bevor dann schon ein neuer Ruf ertönt und die nächste Reise beginnt ….

Quellenangaben:
– Campbell, Joseph (1999): Der Heros in tausend Gestalten. Insel Verlag, Frankfurt am Main.
– Eilert, Dirk (2021a): Integratives Emotionscoaching. Wie emotionale Veränderung wirklich gelingt. Junfermann Verlag, Paderborn.
– Eilert, Dirk (2021b): Emotionscoaching auf Identitätsebene. Handout zum emTrace®-Aufbautraining (Level 3). Eigenverlag, Berlin.
– Vogler, Christopher (2018): Die Odyssee der Drehbuchschreiber, Romanautoren und Dramatiker. Mythologische Grundmuster der Heldenreise für Schriftsteller. Autorenhaus Verlag, Berlin.

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Der Autor

Roger Marquardt

Name: Roger Marquardt

Beruf: Coach, Begleitperson, Lehrtrainer, Therapeut

Website: roger-marquardt.com

Motto: «Erkenne Dich selbst. Werde der Du bist.»

Ausbildner in: Zertifikat CoachDiplom Mental CoachBegleitung zur FachprüfungemTrace®

Seit 2005 ist Roger mit Leidenschaft und Begeisterung Emotions-Coach und hat sich auf die Anwendung moderner, integrativer und effektiver Kurzzeit-Methoden im Coaching spezialisiert. Vor seiner Karriere als selbständiger Coach, Berater und Trainer hat er erfolgreich ein Studium der Sozialpädagogik absolviert. Es folgten verschiedene Fortbildungen in Methoden der Persönlichkeitsentwicklung und eine Ausbildung zum NLP Master. Roger ist mehrfach zertifizierter Ausbildner, Coach und Lehrtrainer.