Der Mensch als Produkt: Die Kategorisierung in Stärken und Schwächen

Seit einiger Zeit fällt mir auf, dass in verschiedenen Bereichen unseres Lebens immer häufiger die Rede ist von unserem Stärken-/Schwächen-Profil. Beruflich ist es Teil eines Vorstellungsgespräches, im Sport gehört es zur Analyse vom Spieler, in der Ausbildung taucht es als Arbeitsblatt auf und in der Schule sollen Kinder vor der Zeugnisausgabe ihre Leistungen zuerst selbst einschätzen – überall dort wird eine Kategorisierung unserer Eigenschaften in gut und nicht gut oder stark und schwach erwartet. Das hört sich dann an wie: Was sind deine Stärken und Schwächen? Arbeite an deinen Schwächen, nutze deine Stärken! etc. etc. Es dient sozusagen als Allzweckwaffe der Selbstanalyse. Die Kategorisierung in Stärken und Schwächen findet man häufig in einem betriebswirtschaftlichen Kontext (Stichwort SWOT-Analyse) – hier dient sie dazu, objektive Kennzahlen über Produkte und Dienstleistungen zu erhalten. Auch im Assessment und in Beurteilungsgesprächen wird sie in Personalabteilungen gerne eingesetzt. In Zusammenhang mit der Beurteilung von Menschen halte ich den Nutzen für begrenzt und sogar schädlich.

Zeige mir deine Stärken und Schwächen – und ich sag dir wer du bist?

Was ist die Basis der Einteilung unserer Eigenschaften in Stärken und Schwächen? Ein Teil unserer Meinungen über uns selbst kommt aus Kindertagen und stimmt mit der jetzigen Realität nicht immer überein. Ein anderer Teil stammt vielleicht aus gemachten Erfahrungen in Lebenssituationen oder Aufgabenfeldern, die nicht auf die jetzige Situation übertragbar sind. Das Ziel einer Massnahme wie das Auflisten von Stärken und Schwächen sollte ja sein, dass Menschen ihr Selbstbewusstsein aufbauen, mehr Lebensfreude haben oder ihre Handlungen optimieren, damit ihnen ein Vorhaben gelingt. Dafür finde ich diesen Ansatz kontraproduktiv und sehe diesen eher als Umweg – für den Erfolg aber auch für eine selbstbewusste Einstellung zu sich selbst und für die Ziele und Vorhaben. Jede Lebenssituation und jede Rolle hat ihr eigenes Stärken-/Schwächen-Profil: Eine Finanzanalystin nutzt und braucht tagsüber in ihrem Job andere Eigenschaften als abends in ihrer Rolle im Sportverein oder zu Hause. Fälschlicherweise wird von uns aber häufig ein Stärken-/Schwächen-Profil als ein Profil unseres gesamten Wesens angesehen. Dadurch limitieren wir uns und was noch schwerer wiegt: wir demotivieren uns für neue Lernfelder.

Coaching: Der andere Ansatz

Im Coaching werden die Kunden als Menschen mit ihrer Komplexität und Gesamtheit wertgeschätzt. Deshalb ist der Fokus im Coaching weniger auf Stärken und Schwächen der Kunden gerichtet, sondern auf ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Quellen. Diese Eigenschaften werden im Coaching zum Mittel einer Zielerreichung angesehen und sind die Ressourcen. Der Zwischenschritt einer Kategorisierung in Stärken und Schwächen entfällt. Ein gutes Beispiel zu dem Vorgehen im Coaching liefert das Neue Zürcher Ressourcenmodell (Lippmann 2013): Zuerst wird das Bedürfnis und das damit verbundenen Motiv und Ziel von den Kunden festgelegt – und dann erst folgt die Planung, wie er oder sie dorthin gelangt. Denn man kann davon ausgehen, dass die dazu notwendigen Ressourcen vorhanden sind – immer unter der Voraussetzung, dass Ziel und Motiv mit den wahren Bedürfnissen übereinstimmen und realistisch ist. Meistens hat ein verfehltes Ziel ganz andere Ursachen als die fehlenden Stärken oder die Schwächen, die in die Quere kamen. Wenn ein gesetztes Ziel nicht erreicht wird oder ein Vorhaben misslingt, kann dies eher ein Zeichen davon sein, dass hier die wahren Bedürfnisse und Motive nicht erkannt wurden.

Die Lust auf mehr

Sollen wir also zufrieden sein mit den Fähigkeiten, die wir haben und uns darauf ausruhen? Nein – absolut nicht! Betrachte ich alle meine Eigenschaften als persönlichkeitsrelevant, kann ich genau schauen und mich wahrnehmen – ich muss nicht über unangenehme Gedanken und Erfahrungen hinwegschauen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, kann ich mich sehr wohl weiterentwickeln und auch in meinen Kompetenzen hervorragend verbessern und steigern. Denn ich beschäftige mich nicht damit, was ich alles nicht oder weniger gut kann – ich beschäftige mich ausschliesslich damit, was ich für mein nächstes Vorhaben oder Ziel noch brauche. Damit setze ich automatisch meinen Standard, arbeite darauf zu und feiere jeden Schritt als Erfolg – und das macht Lust, an sich zu arbeiten – denn ich sehe, dass ich genau diejenigen Mittel mitbringe, die ich brauche, um meine Bedürfnisse zu befriedigen und meine Ziele zu erreichen. Und schliesslich machen uns alle Eigenschaften erst komplett und um den Titel dieses Blogbeitrages aufzugreifen: Ohne meine Eigenschaften, die ich im Stärken-/Schwächen-Profil als Schwächen werten sollte, bin ich vielleicht auch eher etwas fad und genormt.

Quellenangabe:
Lippmann, E.: Coaching, Heidelberg 2013

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Der Autor

Dr. Kirsten Koch

Name: Dr. Kirsten Koch

Beruf: Betriebliche Mentorin, Sport Mental Coach

Website: kirstenkochtraining.com

Motto: „Its not about the goal. Its about growing to become the person that can accomplish that goal.” Tony Robbins

Mit ihrer Erfahrung und Wissen als Mental Coach, Biologin und Wettkampfsportlerin zeigt Kirsten Koch unseren Kunden, wie sie ihre Erfolge herbeiführen können. Kirsten Koch verbindet ihre Erfahrungen als Leistungssportlerin in Tennis und Triathlon mit ihrem naturwissenschaftlichen Hintergrund aus der Neurobiologie. Die Parallelen zwischen dem menschlichen Verhalten im Sport und dem alltäglichen Umfeld faszinieren sie. Deshalb unterstützt sie Sportler und Sportbegeisterte dabei, ein dynamisches Mindset zu entwickeln. Bei unseren Kunden geht es ihr vor allem um die Entwicklung der Fähigkeit, Ergebnisse gewinnbringend zu deuten und daraus den Transfer für wirksame Ziele zu machen.