Neben meinem Elternhaus steht eine Eiche. Sie war bereits uralt, als ich klein war. Schon als Kind hat sie mir imponiert, wie sie da majestätisch, tief verwurzelt in der Erde, mit viel Stolz ihre Äste in den Himmel streckt. Sie war ein Sinnbild für Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität in einer sehr turbulenten Jugend.  Ich wünschte mir, mal so zu werden wie sie: voller Selbstbewusstsein und innerer Ruhe, unumstösslich egal wie chaotisch das Umfeld ist. Heute, über ein halbes Jahrhundert später, ist sie noch imposanter. Kein Sturm kann ihr gefährlich werden. Sie ruht stabil an ihrem Platz. Mittlerweile wurde sie sogar von der Stadt unter Naturschutz gestellt und strahlt mit ihrem grün-weissen Schild nur noch mehr Persönlichkeit aus.

Als ich nun gefragt wurde, einen Beitrag zum Thema Selbstbewusstsein zu schreiben, war diese Eiche mir sofort wieder präsent. Eine fabelhafte Metapher für die Konzepte des «Selbst», von denen das Selbstbewusstsein nur eins, wenn auch ein sehr zentrales ist.

Die Wurzeln – der Selbstwert

Die gesunde Basis für die Fähigkeit der Eiche, allen Widrigkeiten zu trotzen, sind ihre Wurzeln, deren stärkste Teile, an der Oberfläche sichtbar sind und weitreichende Stabilität geben. Für unser Bild des Selbst-Konzepts repräsentieren sie den Selbstwert einer Person. Genau wie die knorrigen Wurzeln «erdet» der Selbstwert eine Person in ihrem Wohlbefinden, unabhängig von äusseren Einflüssen. Personen mit einem guten Selbstwert kennen ihre Werte und handeln danach. Sie sagen «Ja» wenn sie Ja meinen und «Nein», wenn sie Nein meinen. Sie nähren diese solide Basis mit jeder Handlung gemäss der eigenen Werte – und sie umgeben sich mit Menschen, die sie für diese Werte respektieren und wertschätzen.

Vorsicht! das bedeutet nicht, dass Werte unumstösslich sind. Sie verändern sich, wie sich auch die Wurzeln der Eiche im Laufe der Jahre verändern: einige werden stärker, andere werden irrelevant und neue kommen dazu. Ist jemandem mit 20ig noch Freiheit und Unabhängigkeit wichtig, treten mit 35ig vielleicht Beziehung und Familie an deren Stelle.

Der Stamm – das Selbstbewusstsein

Der Stamm der Eiche symbolisiert unser Selbstbewusstsein. Fest und aufrecht verleiht er der Eiche ihre Struktur und Form. Genau wie der Stamm es der Pflanze ermöglicht, sich nach aussen hin zu präsentieren, strahlt auch das Selbstbewusstsein nach aussen, während es verletzliche innere Teile beschützt. Menschen mit einem guten Selbstbewusstsein haben eine klare Identität. Sie sind sich ihrer Stärken bewusst, wissen aber auch um die Auswirkungen ihrer imperfekten Eigenschaften und können dazu stehen. Sie kennen ihren sozialen Status, können sich von anderen abgrenzen und ihre Ziele und Gefühle klar kommunizieren. Sie wissen, was sie von sich nach aussen tragen – und was sie aber auch beschützen wollen.

Die Äste der verschiedenen Lebensbereiche – das Selbstvertrauen

Aus dem Stamm des Selbstbewusstseins erwächst nun das Selbstvertrauen in den verschiedenen Lebensbereichen, repräsentiert durch die Äste und Zweige, die sich vom Stamm des Baums ausbreiten. Sie wachsen durch Erfahrungen, Erfolge und Vergleiche mit. Ebenso durch Unterstützung von anderen sowie auch durch das bewusste Verarbeiten von Misserfolgen und Enttäuschungen. Selbstvertrauen bezieht sich auf konkrete Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich. Am Anfang des Berufsleben ist das Selbstvertrauen vielleicht noch gering, während gleichzeitig das Selbstvertrauen z.B. als Sportler:in bereits recht stark sein kann.  So entstehen immer neue Äste im Leben: im Beruf, im Sport, als Partner:in, Vater oder Mutter. Das Selbstvertrauen wächst, Ast um Ast, Lebensbereich um Lebensbereich.

Zweige und Blätter – Selbstwirksamkeit wenn’s drauf ankommt

Jetzt wird es konkret: Die Blätter, die an den Zweigen der Eiche wachsen, repräsentieren die Selbstwirksamkeit einer Person, zu verstehen als das Selbstvertrauen, mit Hilfe der eigenen Fähigkeiten ein gesetztes Ziel erreichen oder eine bevorstehende Aufgabe selbstständig bewältigen zu können. Dabei helfen natürlich Fähigkeiten aus anderen Ästen des Lebens.

Nehmen wir eine gesunde «Personen-Eiche» als Beispiel:

Einer deiner Werte kann sein: Sport. Dieser Wert ist für dich wichtig, also wertvoll.

Du hast ein gutes Selbstbewusstsein, kennst deine Stärken und Schwächen. Als eine dir bewusste Eigenschaft hast du z.B. Durchhaltevermögen.

Weil du schon verschiedene Sportarten gelernt hast, ist dein Selbstvertrauen als Sportler:in generell solide.

Nun nimmst du dir vor, Skifahren zu lernen. Etwas neues, was du noch nie gemacht hast. Aber weil du dich als sportliche Person siehst, weisst du, dass du Durchhaltevermögen hast und schon in anderen Sportarten weit gekommen bist. Deshalb hast du nun auch für das Neue, Skifahren, eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung: Du vertraust darauf, dass du das Skifahren auf Basis deiner anderen Kompetenzen ebenfalls lernen kannst.

Geht auch das eine ohne das andere?

So wie unsere Eiche wächst, entstehen auch die verschiedenen Selbstkonzepte. Je stärker dabei die Fundamente – Selbstwert und Selbstbewusstsein – desto gefestigter ist eine Person und desto einfacher entwickelt sich gesundes Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit. Was aber nicht bedeutet, dass es jemals zu spät wäre, die einzelnen Komponenten zu stärken.

Wir kennen sie alle: die Personen, die hochtalentiert und in einem Bereich ihres Lebens herausragend, aber innerlich voller Selbstzweifel und Unsicherheit sind. Können sie den fehlenden Selbstwert entwickeln? Natürlich! Auch wenn es oft ein langer Weg ist.

Oder die Personen, die zwar mit stabilen Werten aufgewachsen sind, sich aber ihrer eigenen Fähigkeiten und Stärken gar nicht bewusst sind. Können sie ihr Selbstbewusstsein stärken? Natürlich, auch Selbstbewusstsein kann entwickelt werden.

Wie stärkst du die verschiedenen Selbst?

Je nachdem, welches der Selbstkonzepte gestärkt werden möchte, gibt es unterschiedliche Ansätze, die zu deutlichen Verbesserungen führen. Ein:e gute:r Coach:in agiert in diesen Prozessen als Katalysator, da er/sie weiss, wo es anzusetzen gilt. Durch Fragen wie…

  • Was zeichnet für dich einen wertvollen Menschen aus?
  • Was sind deine persönlichen Werte im Gegensatz zu denen deiner Eltern oder deines Umfelds?

…entwickelst du dein Verständnis deines Selbstwerts.

Fragen, die dagegen Selbstbewusstseinsfördernd sind, könnten sein:

  • Welche Eigenschaften machen dich einmalig?
  • Für welche Fähigkeiten bewundern dich andere Menschen?

Bei der Entwicklung des Selbstvertrauens gehen wir auf die Suche nach Ressourcen:

  • Welche Erfolge hattest du schon?
  • Welche deiner Fähigkeiten und Eigenschaften hast du dabei eingesetzt?
  • Wie unterstützt dich dein Umfeld?

Und hast du dein Selbstvertrauen erst gestärkt, wirst du in konkreten Situationen auch Selbstwirksam sein.

Ob ich mit meinem Selbstkonzept jemals unter Naturschutz gestellt werde, bezweifle ich. Die Eiche wird mich damit – hoffentlich –überleben.

Quellenangaben

– Marshall S./Paterson L., Siegerdenken, Riva Verlag, 2018

– Stavemann H., …und ständig tickt die Selbstwertbombe, Beltz Verlag, 2011

Die Autorin

Christine Lang

Name: Christine Lang

Beruf: Betriebliche Mentorin, Coach, Dipl. Sport Mental Coach

Website: lustauferfolg.ch

Motto: «Selbstbewusstsein kommt von Selbst-Bewusst-Sein»

Ausbildner in: Zertifikat Coach, Business Coach, SVEB-Zertifikat Praxisausbilder/in

Christine Lang ist in über 30 Jahren in kleinen, mittleren und grossen Unternehmen sowie internationalen Konzernen die Karriereleiter hochgestiegen. Als betriebliche Mentorin begleitet sie jetzt Menschen in ihren persönlichen und beruflichen Entwicklungen. Gleichzeitig ist sie Sportlerin auf internationalem Level und diplomierter Sport Mental Coach. Ihr Fokus liegt auf der praktischen Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für bestmögliche Leistung in Beruf und Sport. Die Themen Leadership durch Selbstreflexion, Visualisierung, Lernen und Stressbewältigung sind nur einige der Themen, in denen sie Wissenschaft mit praktischer Anwendung und eigener, langjähriger Erfahrung kombiniert.