Wenn wir von „mentalem“ Training oder von „mentaler“ Stärke und Gesundheit reden, spielt sich das nach meiner Überzeugung keineswegs auf einer rein rationalen, reflexiven Ebene des Nachdenkens ab, sondern der Einbezug der emotionalen Ebene ist für eine nachhaltige mentale Balance und Gesundheit unerlässlich. Wie komme ich zu dieser Behauptung? Andersherum gefragt: Wie kommt es, dass es für uns oder auch für unsere Klienten im Coaching manchmal so schwierig ist, sich in den Zustand mentaler Stärke zu bringen, obwohl wir oder sie es möchten? Dass wir oder sie nicht das umsetzen können, was wir eigentlich wissen, können und wollen?

Die Antwort: Emotionen prägen unseren (mentalen) Gesamtzustand mehr und hartnäckiger als uns lieb ist. Das untermauern Ergebnisse der modernen Gehirnforschung, wonach der Mensch nicht ein primär rationales, willens- und vernunftgeleitetes Wesen ist, sondern dass es die Emotionen sind, die unsere mentale Stärke und Gesundheit steuern und dominieren. Das «limbische System» mit seinen bewussten und unbewussten Anteilen gilt dabei als «Sitz der Emotionen und der Stressverarbeitung», spielt also für das Erleben, die Gestaltung und Bewältigung unseres Lebens und des beruflichen Alltags eine zentrale Rolle. Es hat also auch massive Auswirkungen auf das Geschehen „in unserem Kopf“, in unserem Versuch, die gewünschten positiven mentalen Zustände zu erzielen. Die nachstehend vorgestellten Forscher haben sich intensiv mit Emotionen und ihrem Einfluss befasst, und ihre Erkenntnisse sind meines Erachtens «Pflichtlektüre» für jede:n Interessierte:n, aber auch für jede:n Coach und Betriebliche:n Mentor:in.

Joseph LeDoux, die Angst und die Amygdala

Eine der häufigsten unangenehmen Emotionen, die uns belasten und mentaler Stärke entgegen wirken, ist die Angst. Joseph LeDoux, Neurowissenschaftler in New York, ist einer der Pioniere der Angstforschung und identifizierte die Amygdala als „Warnschalter“ bei Gefahr und Stress. In einem TV-Beitrag (LeDoux 2000) befasste er sich mit der Frage: «Wo sitzt die Angst biologisch gesehen?» Er charakterisiert dabei die Amygdala sinngemäss wie folgt: „Die Amygdala selbst empfindet keine Angst, sie ist nur ein Instrument, das Gefahr erkennt und uns handeln lässt, noch bevor wir denken“. Es gibt nach LeDoux zwei Wege, die Amygdala „einzuschalten“:

  • Der Prozess des „kognitiven Verarbeitens“ beginnt am Thalamus (Tor zum Bewusstsein) und verläuft über den Cortex, wo Reize von aussen wahrgenommen werden. Nach der vollständigen Analyse und Verarbeitung aller Informationen aktivieren diese die Amygdala, die Stress-/Angstreaktion setzt ein. Aber das ist aufwändig und dauert einige Zeit, nämlich 100mal länger als der folgende 2. Weg:
  • LeDoux: „Wir haben schon früh entdeckt, dass es noch einen zweiten Weg direkt aus dem Thalamus in die Amygdala gibt: der Mensch erstarrt, das Herz rast, die Atmung geht schneller, der Blutdruck steigt, Stresshormone werden ausgeschüttet – und das alles in den ersten Millisekunden der emotionalen Reaktion.“

Welche der beiden Wege gewählt wird, hängt einerseits von der allgemeinen Ängstlichkeit oder Stressanfälligkeit eines Menschen ab, ausserdem von der „objektiven“, realen Bedrohlichkeit eines Reizes in der jeweils konkreten Situation und dann letztendlich von unserer „subjektiven“ Einschätzung und Bewertung von Situationen. Wenn die Angst stark wird und „zuschlägt“, ist sie schneller und stärker als unsere (mentalen) Gedanken, und sie prouziert in uns einen Stresszustand und keinen Zustand der Gesundheit oder Stärke.

Gerhard Schwarz und die Primaten

Dr. Gerhard Schwarz (1937-2022) galt als Pionier der Gruppendynamik, war Universitätsdozent für Philosophie und Gruppendynamik, Forscher, Autor, Vortragsredner, Coach, Team- und Managementberater. Seit 1975 lebte, schrieb und forschte Gerhard Schwarz einige Monate im Jahr in Nairobi (Kenia) und im dortigen Naturschutzreservat «Masai Mara». Er beobachtete und beforschte Primaten (Paviane) in freier Wildbahn und leitete daraus Erkenntnisse in Bezug auf menschliches, vor allem «archaisches» Verhalten in Gruppen und Teams ab. Diese Erkenntnisse setzte er im Rahmen von Coaching und Beratung (Themen wie Konflikte, Gruppendynamik, Führung, Teamentwicklung, Veränderungsprozesse etc.) praktisch um.

Sehr pointiert und süffisant schreibt Schwarz: «Seit unsere Vorfahren vor etwa 8 Millionen Jahren von den Bäumen heruntergestiegen sind und an den Ufern von Seen oder Flüssen aufrecht gehend lebten (…), entwickelten sich die Menschen zwar technologisch weiter, die alten Verhaltensmuster der Steinzeit blieben aber jedenfalls teilweise erhalten.“ (Schwarz 2019, Vorwort S. VI) Und weiter: „Eine Gruppe kann unter bestimmten Bedingungen rasch auf archaische Muster zurückfallen und ein entsprechendes Verhalten entwickeln. Welche Bedingungen sind das? Ich habe festgestellt, dass dies unter affektiver Aufrüstung geschieht. Meist sind es negative Affekte, die uns den Verstand rauben: ‚Blind vor Wut.‘ Aber es können auch positive Gefühle sein: ‚Liebe macht blind.‘“ Schwarz untersuchte Verhaltensweisen etwa bei Grenzverletzungen (Territorialverhalten), bei Konflikten, in Bezug auf Führungsstile, bei der Ausbildung von Hierarchien und Strukturen in Unternehmen und in Arbeitsgruppen (Schwarz 2007).

Seine zentrale Erkenntnis spiegelt sich in den sich wiederholenden Aussagen zur «affektiven Aufrüstung» wider. So schreibt er beispielsweise über Angst und Panik: «Panikreaktionen sind durch den weitgehenden Verlust der kortikalen Kontrolle gekennzeichnet. Dieser Verlust tritt offensichtlich bei affektiver Aufrüstung ab einem bestimmten Grad ein.“ (Schwarz 2019, 81f.) An anderer Stelle schreibt er: «Wir fallen bei affektiver Aufrüstung wieder auf archaische Emotionen zurück.“ (aaO, 331). Und zum Dritten: «Bei affektiver Aufrüstung wird der Cortex weggeschaltet», sagte G. Schwarz auf einem seiner Vorträge.

Auch hier gilt das Prinzip „Emotion schlägt Kognition“: heftige Emotionen stehen dem gesunden Menschenerstand, der mentalen Ausgeglichenheit resp. der Kontrolle unseres Zustands durch das (kognitive) Grosshirn entgeben.

Gerhard Roth und das limbische System

Sehr spannend und praxistauglich sind die Forschungen und Bücher von Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth (1942-2023), Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. In seinem Buch «Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten» (Roth 2021) entwirft er sein Grundmodell von Persönlichkeit und nennt dort vier neurobiologische Ebenen und Einflussgrössen, die uns prägen.

«Das limbische System wird von Neurobiologen als ‘Sitz’ des Psychischen einschliesslich der unbewussten und bewussten Gefühle (Emotionen), Motive und Ziels angesehen. Es hat die für den Organismus zentrale Aufgabe, Ereignisse und Handlungen danach zu bewerten, ob sie positive oder negative Folgen haben. Die Ergebnisse dieser Bewertungen werden dann gespeichert und zur Grundlage zukünftigen Verhaltens gemacht» (Roth, Strüber 2018, 73f).

Roth und Ryba kommen in Ihrem Buch «Coaching, Beratung und Gehirn» zum Schluss: «Das limbische System hat in der Verhaltensplanung das erste und letzte Wort. Das erste Wort beim Entstehen der Wünsche und Pläne, und das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was als Handlungsabsichten gereift ist, tatsächlich jetzt und so und nicht anders getan werden soll.» (Roth, Ryba 2016, 222ff). Roth und Ryba zeigen in ihrem Buch auf, welche Massnahmen oder Ansatzpunkte für Veränderung oder Problemlösung im Coaching und im Selbstmanagement gewählt werden können, und welche kognitive oder limbische Ebene dabei jeweils angesprochen wird.

Dabei sind sie sich einig, dass Techniken, Methoden und Übungen, die die limbisch-emotionale Ebene adressieren, als wirksamer für Coaching und Selbst-Coaching angesehen werden, weil sie den mentalen Zustand nachhaltiger beeinflussen und stärken können. Eine wichtige Anregung für den Betrieblichen Mentor und seinen «Methodenkoffer»!

Fazit an dieser Stelle:

  • Wenn also Veränderung und „Herstellung“ innerer Zustände überwiegend nicht auf kognitiv-sprachlicher, sondern auf limbisch-emotionalen Ebene stattfindet, sollten Coaching oder Selbst-Coaching mit dem Ziel mentalen Stärkung ebenfalls hier ansetzen, um veränderungswirksamer zu sein.
  • Interventionen und Methoden, die in Coaching und Beratung nachhaltige Wirkung erzielen möchten, müssen in geeigneter Weise Emotionen im Veränderungsprozess berücksichtigen und explizit mit einbeziehen.
  • Es ergibt sich als Konsequenz, dass emotionsbasierte Techniken, Übungen und Interventionen für das Selbstmanagement, für mentale Stärke und Gesundheit tiefer greifen und bessere Ergebnisse versprechen.

Im Coaching ist es entscheidend zu verstehen, dass mentale Stärke nicht nur durch rationales Denken, sondern auch durch das gezielte Einbeziehen von Emotionen erreicht wird. In der Ausbildung zum Diplom Mental Coach an der IPC-Akademie lernen Sie, emotionale Ebenen in den Coaching-Prozess einzubinden, um nachhaltige Veränderungen zu fördern.

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Quellenangaben

– Allman, William: Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt. Spektrum, Heidelberg (2009)
– LeDoux, Joseph: Wo sitzt die Angst biologisch gesehen? In: Phobia – die nackte Angst. Aus der Reihe BBC-Exklusiv, gesendet am 02.08.2000 auf VOX. Privatbesitz RM (2000)
– Roth, Gerhard: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta, Stuttgart (2021)
– Roth, Gerhard; Ryba, Alica: Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Klett-Cotta, Stuttgart (2016)
– Roth, Gerhard; Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart (2018)
– Ryba, Alica; Roth, Gerhard: Coaching und Beratung in der Praxis. Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell. Klett-Cotta, Stuttgart (2019)
– Schwarz, Gerhard: Die «Heilige Ordnung» der Männer. Hierarchie, Gruppendynamik und die neue Rolle der Frauen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden (2007)
–Schwarz, Gerhardt: Shitstorms, Lügen, Sex. Steinzeitrituale in Gruppen und Hierarchien. Springer, Wiesbaden (2019)

Der Autor

Roger Marquardt

Name: Roger Marquardt

Beruf: Selbständiger Coach, Betrieblicher Mentor, Begleitperson, Lehrtrainer, Therapeut

Website: roger-marquardt.com

Motto: «Erkenne Dich selbst. Werde der Du bist.»

Ausbildner in: Zertifikat Coach, Diplom Mental Coach, Prüfungsvorbereitung Eidg. FA Betriebliche:r Mentor:in

Seit 2005 ist Roger mit Leidenschaft und Begeisterung Emotions-Coach und hat sich auf die Anwendung moderner, integrativer und effektiver Kurzzeit-Methoden im Coaching spezialisiert. Vor seiner Karriere als selbständiger Coach, Berater und Trainer hat er erfolgreich ein Studium der Sozialpädagogik absolviert. Es folgten verschiedene Fortbildungen in Methoden der Persönlichkeitsentwicklung. Roger ist mehrfach zertifizierter Ausbildner, Coach und Lehrtrainer.